Sonntag, 26. Juli 2009

Das Wirtschaftsganze oder die Wirtschaftseinheit


1922 legte Eugen Schmalenbach mit seinem Werk FINANZIERUNGEN ein solides Fundament für die Ertragswertmethode, die zu den Gesamtbewertungsmethoden zählt. Von dem damals herrschenden Zeitgeist des Objektivismus bei der Bewertung von Unternehmen war er vollkommen frei. Er war mit seinen Überlegungen zur Unternehmensbewertung seiner Zeit, in welcher die Einzelbewertung der Substanz (Substanzwertverfahren) im deutschsprachigen Raum einen Ausschließlichkeitsanspruch hatte, Jahrzehnte voraus.
"Die Reichsabgabenordnung stellt in § 137 Abs. 2 mit Recht den Grundsatz auf:

Jede wirtschaftliche Einheit ist für sich zu bewerten und der Wert im ganzen festzustellen.

Dieser bereits im alten Preuß. Ergänzungssteuergesetz geltende Fundamentalsatz, der aber dort durch die Ausführungsbestimmungen seines wirklichen Inhalts, wenigstens soweit die Bewertung von Unternehmungen in Betracht kam, völlig beraubt wurde, muß auch in der Schätzungstechnik auf das sorgfältigste beachtet werden.

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Dieser Sachwert wird bei der Schätzung von Unternehmungen so gewonnen, daß z.B. der Wert der Grundstücke, der Gebäude, der sonstigen Anlagen, der Vorräte usw. festgesetzt wird und dann alle diese Werte zusammengezählt werden; davon werden die Schulden abgezogen, und der sich so ergebende Wert soll nun der Wert der ganzen Unternehmung sein. Sowohl aus theoretischen Erwägungen heraus als auch auf Grund der praktischen Erfahrungen ist diese Auffassung durchaus abzulehnen.

Theoretisch spricht gegen sie das Folgende:

Der Wert einer jeden Sache wird nur bestimmt durch den Nutzen, den sie zu bringen vermag; was nicht irgendwie nützlich ist, hat keinen Wert. Nun hat allerdings z.B. ein Fabrikgebäude für eine Unternehmung in der Regel einen erheblichen und sogar entscheidenden Wert insofern, als die Unternehmung ohne dieses Gebäude gewöhnlich überhaupt nicht zu denken ist. Aber der Nutzen, den das Fabrikgebäude zu bringen vermag, ist nicht ein besonderer, für sich alleinstehender; vielmehr ergibt sich dieser Nutzen erst aus dem Zusammenwirken aller Teile. Dieser Gesamtnutzen läßt sich in keiner Form auf die einzelnen Betriebsteile, wie Gebäude, Maschinen, Werkzeuge usw. verteilen. ... Infolgesessen beruht ein solcher Einzelwert auf einer willkürlichen, falschen Voraussetzung; er ist nicht ein wirklicher, sondern ein konditionaler Wert; ein Wert, der vorhanden wäre, wenn eine lediglich gedachte Voraussetzung richtig wäre.

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Auch die praktische Erfahrung lehrt, daß bei Unternehmungen der Wert nicht bestimmt werden kann durch eine Addition der konditionalen Einzelwerte. Wenn man z.B. ein Bergwerk baut, zu diesem Zwecke zunächst Bohrversuche macht, Grundstücke erwirbt, die Kosten der Bergwerksverleihung bestreitet, einen Schacht baut, Aufschließungsarbeiten unter Tage ausführt und die nötigen Betriebsanlagen über Tage herstellt, so ist der Gesamtwert des Bergwerks keineswegs gleich der Summe der Werte einzelner Teile. Das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil ein Bergwerksunternehmer nicht daran denkt, alle diese Kapitalien zu investieren, wenn als Produkt dieser Investierungen nur ein Wert herauskäme, der gerade den Aufwendungen entspricht; nur die Erwartung eines Mehrwerts kann dazu anregen, derartige risikoreiche Untersuchungen in Angriff zu nehmen. Es ist aber auch bekannt, daß der Wert eines Bergwerks durchaus abhängt von der Bergbausubstanz, die man beim Abbau preiswert zu Tage fördern und absetzen kann. Erweist sich, daß die Erwartungen nicht erfüllt werden, so ist der Wert des Bergwerks gewöhnlich geringer als die aufgewendeten Bau- und Aufschließungskosten. Sind die Abbauverhältnisse besonders günstig, so stellt sich der Wert des Bergwerks höher als die Summe aller Einzelwerte.

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Andererseits kann man nicht sagen, daß die Summe des Wertes der einzelnen Teile für den Gesamtwert einer Unternehmung völlig gleichgültig sei; wie man denn überhaupt findet, daß allen verbreiteten Wertvorstellungen und allen üblichen Bewertungsregeln, auch wenn sie in wesentlichen Punkten falsch sind, dennoch eine mehr oder weniger richtige Beobachtung zugrunde liegt. Aufgabe der Bewertungslehre ist es dann, dieses Richtige herauszuschälen und zu benutzen.

Gegen den Grundsatz, daß eine Wirtschaftseinheit immer nur im ganzen bewertet werden darf, und daß man nur mit allergrößter Vorsicht und nur mit durchaus geklärten Vorstellungen den Versuch machen darf, mit Hilfe von Einzelwerten den Gesamtwert zu bestimmen, ist sehr häufig gesündigt worden. Es handelt sich hier um einen Denkfehler, der offenbar von allen gemacht wird, die sich mit Bewertungsfragen oberflächlich beschäftigen. Derjenige, dessen Amt es ist, junge Menschen in das wirtschaftliche Denken einzuführen, kann diese natürlichen Denkfehler benutzen, um den Erfolg seiner pädagogischen Arbeit zu kontrollieren. Solange seine Zöglinge noch Wirtschaftseinheiten mit Einzelwerten erhalten wollen oder auch nur dazu geneigt sind, darf er sie als unreif betrachten; diese Geneigtheit der Einzelbewertung zu pädagogischen Zwecken ist mir häufig als ihre bedeutsamste Eigenschaft erschienen. Immerhin werden wir später sehen, daß die Summe der Einzelwerte, falls man sie bewußt zu einem Rekonstruktionswert der Einzelunternehmung verbindet, als Hilfswert einige Bedeutung hat.

Es wird gut sein, die bisher besprochenen wenigen Tatsachen der Überzeugung intensiv einzuverleiben:

1. vergangene Geschehnisse und Tatsachen sind für den Wert einer Sache nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar bestimmend; sie sind Schätzungshilfsmittel;


2. der durch Addition von zweckentsprechend festgestellten Einzelwerten gefundene Gesamtwert einer Wirtschaftseinheit ist nicht das, was wir unter dem Wert dieser Wirtschaftseinheit verstehen können; vielmehr handelt es sich nur um einen mehr oder weniger brauchbaren Hilfswert."


(Schmalenbach: Finanzierungen, Leipzig 1922, S. 5-7)

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