Donnerstag, 8. Oktober 2009

Das ungezähmte Monster: Die Reform der Weltfinanzordnung verlangt Beteiligung der Gewerkschaften



Ansprache von Bundespräsident Horst Köhler bei der Festveranstaltung "60 Jahre DGB"


05.10.2009 Berlin

"60 Jahre Deutscher Gewerkschaftsbund - ein stattliches Jubiläum und ein guter Grund, zurückzublicken auf Erlebtes und Erstrebtes und vorauszuschauen auf die kommenden Aufgaben der Gewerkschaften in Deutschland und weltweit. Ich gratuliere dem DGB, und ich sage Ihnen aus Überzeugung: Sie, der DGB, die Gewerkschaften, werden gebraucht. Bleiben Sie stark, bleiben Sie streitbar und kompromissbereit und auf das Gemeinwohl bedacht!

Herzlichen Glückwunsch also. Aber in Deutschland sind offiziell mehr als 3,3 Millionen Menschen arbeitslos, und die noch immer virulente Krise auf den Finanz- und Wirtschaftsmärkten hat unseren Arbeitsmarkt noch gar nicht voll erreicht. Sie werden darum von mir auch heute keine bloße Festrede erwarten - zur Sache also:

Die internationale Finanzkrise hat gezeigt, was geschieht, wenn mächtige wirtschaftliche Akteure den Blick fürs Ganze und den Blick über den Tag hinaus verlieren. Das wirft zwei grundsätzliche Fragen auf:

Erstens: Dürfen sich die Völker der Welt eigentlich einfach darauf verlassen, dass die Akteure auf den Märkten den nötigen Blick für das Gemeinwohl und für nachhaltiges Wirtschaften haben? Antwort: Nein, das dürfen die Nationen nicht. Die Krise hat bewiesen: Im Wirtschafts- und Finanzleben ist eine energische staatliche und zwischenstaatliche Ordnungspolitik unentbehrlich. Die ordnungspolitischen Vordenker unserer Sozialen Marktwirtschaft haben Recht behalten: Der Markt alleine richtet nicht alles zum Guten. Wir brauchen wirtschaftspolitisch weltweit "einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten". Das hat Alexander Rüstow gesagt, einer der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. Stark ist ein Staat, der dem Marktgeschehen klare und wirksame Regeln und Grenzen setzt. Und stark ist gerade auch ein Sozialstaat, der keine Versprechungen macht, die er nicht einlösen kann.

Die zweite Frage lautet: Lässt sich die Wirtschaft so gestalten, dass sie mehr verfolgt als bloße Eigeninteressen, dass die an ihr Beteiligten immer auch das Gemeinwohl und die Erfordernisse nachhaltigen Wirtschaftens im Blick behalten? Antwort: Ja, und dafür sind vor allem drei Faktoren gut - soziale Teilhabe, ein kooperatives Klima in den Arbeitsbeziehungen und eine Kultur der Mitbestimmung.

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Arbeit ist meist erst als Zusammenarbeit wirklich produktiv. Für solche Zusammenarbeit sind Mitspracherechte der Arbeitnehmer und ein kooperatives Klima zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern eindeutig förderlich. Die Mitsprache der Arbeitnehmer hat in Deutschland eine lange Tradition. Betriebliche Arbeitervertretungen gab es bei uns schon im neunzehnten Jahrhundert, und 1905 schrieb sie erstmals der Gesetzgeber für einen Teil der Wirtschaft zwingend vor. Schon damals zeigten die sogenannten Arbeiterausschüsse, zum Beispiel im Maschinenbau: Je mehr die Arbeitnehmer an der Gestaltung der Produktion beteiligt wurden, je mehr sie sich damit identifizieren konnten und je mehr sie ihren fairen Anteil am Erfolg bekamen, desto weniger bedurfte es kostspieliger Kontrolle, desto weniger Ausschuss wurde produziert und desto weniger riskant war es, teure Maschinen anzuschaffen, die auf störungsfreie Bedienung angewiesen waren und ungestört von Arbeitskämpfen laufen mussten, um sich bezahlt zu machen. Wenn das schon damals so war - um wie viel mehr dann erst heute, in unserer komplexen und hoch vernetzten Wissensökonomie!?!

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Die Arbeit an einer besseren Weltfinanz- und Weltwirtschaftsordnung hat begonnen. Das ist gut. Und der Einsatz unserer Bundeskanzlerin und unseres Bundesfinanzministers in dieser Frage verdient Dank und Anerkennung - ja, und auch Beifall, meine Damen und Herren. Ich kann aber selbst, ehrlich gesagt, aus den veröffentlichten Beschlüssen von Pittsburgh leider noch nicht entnehmen, dass sich eine Krise dieser Dimension auf den Weltfinanzmärkten nicht doch eines Tages wiederholen kann. Eine solche Krise aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen muss doch der Maßstab sein, an dem wir den Erfolg der internationalen Bemühungen messen. Wie sollte Politik sonst überhaupt Sinn machen? Wie könnte die Politik den Menschen sonst guten Glaubens zum Beispiel Vorsorgesparen für das Alter empfehlen?

Tatsächlich beobachten wir auf den internationalen Finanzmärkten schon wieder ein Déjà-vu mit Hütchenspielern im Shadow-Banking, mit intransparenten Derivategeschäften und Spekulation auf den Rohstoffmärkten - und alles davon in Größenordnungen, die weiterhin völlig unvorstellbar sind. Ja, ich sehe "das Monster" noch nicht auf dem Weg der Zähmung. Vor allem kann ich auch noch keine tiefer gehende Selbstreflexion der globalen Finanzakteure erkennen, das heißt, ihr Nachdenken über die Krise im eigenen Haus, über die Wertekrise im eigenen Denken und Handeln. Es kommt einem so vor, dass die Branche die Politik im Regen stehen lässt. Und die Diskussion darüber, wer die Kosten der aktuellen Krise eigentlich trägt, hat noch nicht einmal ernsthaft begonnen.

Ich warne jedenfalls davor, die Finanzmarktkrise zu stark nach dem "Prinzip Hoffnung" zu handhaben - auch in der Form von Hoffnungen, Wachstum könne das Geschehene zudecken und vergessen machen. Ich bin auch der Ansicht, dass die Aufarbeitung der Krise mehr Europa verlangt, als es die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bisher zulassen. Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Gelegenheit, das europäische Modell auch mit einer europäischen Stabilitätskultur weiter zu untermauern? Die Arbeit der Kommission der Europäischen Union hat jedenfalls mehr Aufmerksamkeit und mehr Unterstützung verdient.

Und ich bin davon überzeugt: Eine grundlegende Reform der Weltfinanzordnung verlangt auch die Beteiligung der Gewerkschaften. Mischen Sie sich ein und schließen Sie Ihre Reihen auch über Ländergrenzen hinweg!

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Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Es ist Zeit darüber nachzudenken, ob ein schlichtes "immer mehr"-Denken die Zukunft gewinnen kann. Unser Blick verengt sich leicht auf das Wachstum dessen, was man kaufen kann. Aber Lebensqualität ist mehr als Konsum. - Und ich sage das, ohne zu übersehen, dass viele Menschen sich gern mehr Konsum leisten würden, aber Lebensqualität ist eben mehr als Konsum. - Lassen Sie uns deshalb den Blick weiten: Es gibt gute Gründe, auch andere Indikatoren für das Wohlbefinden der Bürger und die Weiterentwicklung der Gesellschaft anzuschauen.

Die Diskussion ist ja nicht neu: Das Sozialprodukt ist ein ziemlich ungenauer Indikator für das Wohlergehen einer Gesellschaft. Trotzdem richten sich auf seine Wachstumsrate in der Öffentlichkeit immer noch alle Blicke. Dabei sind wir eigentlich schon weiter: Seit 1990 gibt es den Human Development Index der Vereinten Nationen, der neben der Einkommensentwicklung auch misst, wie es um Gesundheit und Bildung bestellt ist. Und die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, hat ein umfangreiches Projekt ins Leben gerufen, das sich damit beschäftigt, wie der Fortschritt von Gesellschaften besser eingeschätzt werden kann als durch das statistische Bruttoinlandsprodukt. Auch die EU-Kommission will künftig Fortschritt jenseits des BIP messen. Ich finde, das sind interessante Ansätze, die unsere - auch Ihre - Aufmerksamkeit verdienen. Dabei geht es mir nicht darum, dass wir die alles umfassende Maßzahl für Fortschritt entwickeln. Denn die gibt es nicht. Mir geht es auch nicht darum, den Eindruck zu erwecken, wir könnten nicht noch mehr Wachstum erreichen. Es geht mir darum, dass wir anderen Entwicklungen in unseren Gesellschaften - "Jenseits von Angebot und Nachfrage" (Wilhelm Röpke) - mehr Aufmerksamkeit widmen; dass wir genauer hinschauen. Die OECD weist mit Recht darauf hin, dass es bei der Suche nach den Maßeinheiten für Lebensqualität auch um politische Kontrolle geht: Wir müssen besser beschreiben und messen lernen, was eine gute Gesellschaft ausmacht, damit die Wähler Politiker und die Ergebnisse ihrer Politik genauer beurteilen können. Der Mensch ist nicht allein Konsument oder Produzent - so wichtig das auch ist. Er ist auch Bürgerin oder Bürger, Nachbar, Mutter, Vater oder Kind. Er hat Wünsche und Träume und er trägt Verantwortung - für seine Mitmenschen, die Schöpfung und auch für künftige Generationen. Haben wir das schon ausreichend im Blick? Haben wir die richtigen Maßstäbe dafür? Geben wir der Diskussion um die richtigen Maßstäbe genügend Zeit?

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Vor 60 Jahren gab Hans Böckler seiner Grundsatzrede beim Gründungskongress des DGB die Überschrift: "Die Aufgaben der deutschen Gewerkschaften in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft". Ich finde, dieser Titel passt heute nicht minder. Die Gewerkschaften tragen für alle drei Bereiche Mitverantwortung, sie sollten auch Mitgestalter sein. Das lässt bloße Klientelpolitik nicht zu. Sie wäre auch unklug, denn sie fordert Misstrauen und Widerstände heraus. Wer dagegen deutlich macht, dass er um die Situation der anderen weiß und ihre Interessen mit im Blick hat, wird ernst genommen und kommt weiter. Wirtschaft und Gewerkschaften sitzen in einem Boot. Das klingt ein wenig nach Zwangsgemeinschaft, in Wahrheit ist es das Zukunftskonzept einer Lern- und Arbeits- und Gewinngemeinschaft. Gute Unternehmensführer wissen: Dauerhafter Erfolg lässt sich nur mit motivierten Mitarbeitern erreichen, und Motivation setzt mehr denn je angemessene Mitsprache voraus.

Die Gewerkschaften und der DGB sind in den vergangenen Jahrzehnten den Weg des Einsatzes für alle gegangen, den Hans Böckler - nicht zuletzt mit seiner Grundsatzrede vor 60 Jahren - gewiesen hat: mit ihrem Engagement für die politische Bildung zum Beispiel, mit der gewerkschaftlichen Unterstützung der Europäischen Union und mit ihrem Einsatz für den Umweltschutz. Dass die Gewerkschaften Wandel mitgestaltet haben, das kann man auch regelrecht sehen - im Ruhrgebiet zum Beispiel. Dort habe ich in der vergangenen Woche den Botschaftern aus aller Welt gezeigt, wie Deutschlands Industrie sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Und ich habe ihnen gesagt: Diesen beeindruckenden Strukturwandel haben wir auch deshalb so gut bewältigt, weil es bei uns insgesamt eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften gibt, die sich auch in Zeiten der Krise und des Umbruchs bewährt hat.

Die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerade auch in schwierigen Zeiten zu vertreten, den Belegschaften zur Seite zu stehen, das ist das Kerngeschäft der Gewerkschaften. Zur Interessenvertretung gehört dabei auch, der eigenen Mitgliederschaft gelegentlich unbequeme Wahrheiten zu sagen, zum Beispiel, dass es ohne lebenslanges Lernen in der heutigen Arbeitswelt einfach nicht mehr geht, dass Neugier und permanente Wandlungs- und Innovationsfähigkeit überlebensnotwendig sind, weil Wirtschaften, das Erhalten und Schaffen von Arbeitsplätzen, - wie alles Leben - Veränderung bedeutet, wenn wir nicht alle in einem Industriemuseum enden wollen; und das wollen wir nicht; und das müssen wir auch nicht. Und zur Interessenvertretung gehört über den Einzelfall oder den einzelnen Betrieb hinaus eben auch, gesellschaftliche Entwicklungen mit zu beeinflussen. Eine funktionierende Sozialpartnerschaft bleibt ein Standortvorteil Deutschlands, gerade in Zeiten des Umbruchs. Suchen Sie den Dialog und bringen Sie in den Wandel Ihren Sachverstand ein. Wir brauchen ihn. Ich bin jedenfalls davon überzeugt: Für die Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben brauchen wir auch weiterhin starke Gewerkschaften und Gewerkschaftsführer, die den Blick fürs Ganze haben.

Wir haben eine Zeit der Vereinzelung erlebt. Das haben auch die Gewerkschaften zu spüren bekommen. Ich glaube, die Zeiten ändern sich. Menschen entdecken, dass zum Wohlergehen immer auch die anderen gehören. Menschen sind soziale Wesen, und Gewerkschaften sind Orte der Solidarität. Das macht die Gewerkschaften attraktiv - besonders, wenn deutlich wird, dass diese Solidarität auch das Gemeinwohl fördert. Denn dann sind sie glaubwürdig und bleiben durchsetzungsstark.

Nutzen Sie Ihre Stärke zum Wohle Aller. Seien Sie Anwälte derer, die etwas leisten wollen, und derer, die den Wandel voranbringen. Ich danke Ihnen."

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