Donnerstag, 5. November 2009

Zur Bedeutung des Stichtags in der Unternehmensbewertung


Der Kapitalwertkalkül, auf welchem die meisten Methoden zur Unternehmensbewertung basieren, enthält bei genauer Betrachtung falsche Zahlungszeitpunkte. Die zu bewertenden Zahlungsüberschüsse fallen in der Praxis unterjährig an. Die im Kapitalwertkalkül getroffene Nachschüssigkeitsannahme verschiebt alle Zahlungen im Zeitraum eines Jahres auf den Zeitpunkt Jahresende. Dieser "Defekt" ließe sich relativ leicht durch die Einführung unterjähriger Zinsfaktoren oder durch Integralrechnung beheben; in der Bewertungspraxis wird darauf jedoch meistens verzichtet.

Die also annahmegemäß zum Ende eines jeden Jahres anfallenden Zahlungsüberschüsse werden auf einen Bewertungsstichtag abgezinst. Dieser Bewertungsstichtag bestimmt, zu welchem Zeitpunkt die finanziellen Überschüsse dem künftigen Unternehmenseigentümer zuzurechnen sind. Bewertungsstichtage können vertraglich vereinbart oder gesetzlich bestimmt sein. Auch die Alternativinvestitionen, die sich im individuellen Entscheidungsfeld des präsumtiven Käufers des Unternehmens befinden, können sich ausschließlich am Wissen zum Bewertungsstichtag orientieren.

Begonnene Investitionen des Unternehmens werden abgegrenzt. Dies schließt die noch fehlende Investitionssumme, Erträge, Abschreibungen und Zinsen aus der Investition ein. Möchte der präsumtive Käufer diese Investitionen nicht realisieren, sind seine Aufwendungen für den Abbruch der Investitionen zu berücksichtigen.

Der Bewertungsstichtag fixiert den Kenntnisstand der Bewertung. Das gilt auch für die Ertragsteuerbelastung.

Nach der so genannten Wurzeltheorie (BGH - Urteil vom 17.01.1973) können bei der Unternehmensbewertung nur die Erkenntnisse berücksichtigt werden, deren Wurzeln in der Zeit vor dem Bewertungsstichtag gelegt wurden. Dies ist immer dann wichtig, wenn zwischen dem Bewertungsstichtag und der tatsächlichen Durchführung der Bewertung ein längerer Zeitraum liegt. In der Urteilsbegründung steht:

Liegen nur vorübergehende negative Umstände vor, so brauchen sich diese in der Feststellung des wahren Werts (Gesamtwerts) nicht niederzuschlagen (BGHZ 13, 45; BGH NJW 1965, 1589). Deshalb erscheint es auch nicht unzulässig und, um die Unsicherheit bei der Bewertung des Zukunftsertrages möglichst einzuschränken, sogar angebracht, auch noch die während des Bewertungszeitraums erkennbare Entwicklung des Unternehmens, wozu hier die behauptete Veräußerung einer Unternehmensabteilung gehören könnte, mitzuberücksichtigen, ohne daß dadurch der Grundsatz des § 2311 BGB verletzt wird, nach welchem der Unternehmenswert zur Zeit des Erbfalls zu schätzen ist und daher auch die Ertragsprognose auf diesen Zeitpunkt abgestellt werden muß. Die Zulässigkeit, erkennbar gewordene Entwicklungen in dieser Weise mit in die Bewertung einzubeziehen, kann in dem Rechtsgedanken des § 2313 BGB eine Stütze finden. Dagegen müssen spätere Entwicklungen, deren Wurzeln in der Zeit nach dem Bewertungsstichtag liegen, außer Betracht bleiben.
Das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) führt in seinen Grundsätzen zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008) dazu folgendes aus:

Unternehmenswerte sind zeitpunktbezogen auf den Bewertungsstichtag zu ermitteln.

Die Erwartungen der an der Bewertung interessierten Parteien über die künftigen finanziellen Überschüsse sowohl des Bewertungssubjektes auch auch der bestmöglichen Alternativinvestition hängen von dem Umfang der im Zeitablauf zufließenden Informationen ab. Bei Auseinanderfallen des Bewertungsstichtags und des Zeitpunkts der Durchführung der Bewertung ist daher nur der Informationsstand zu berücksichtigen, der bei angemessener Sorgfalt zum Bewertungsstichtag hätte erlangt werden können. Dies gilt auch für den Informationsstand über die Ertragsteuerbelastung der finanziellen Überschüsse, d.h. maßgeblich ist das am Bewertungsstichtag geltende bzw. das mit Wirkung für die Zukunft vom Gesetzgeber beschlossene Steuerrecht.
Der IDW S 1 in seiner alten Fassung vom 28.06.2000 lautete etwas anders:

Unternehmenswerte sind zeitpunktbezogen. Mit dem vertraglich vereinbarten oder gesetzlich bestimmten Bewertungsstichtag wird zum einen festgelegt, welche finanziellen Überschüsse nicht mehr zu berücksichtigen sind, weil sie den bisherigen Eigentümern des Unternehmens bereits zugeflossen sind, und ab welchem Zeitpunkt zu erwartende bzw. schon realisierte finanzielle Überschüsse den künftigen Eigentümern zuzurechnen sind.

Zum anderen hängen die Erwartungen der an der Bewertung interessierten Parteien hinsichtlich der künftigen finanziellen Überschüsse sowohl des Bewertungsobjekts als auch der bestmöglichen Alternativinvestition von dem Umfang der im Zeitablauf zufließenden Informationen ab. Bei Auseinanderfallen des Bewertungsstichtags und des Zeitpunkts der Durchführung der Bewertung ist daher nur der Informationsstand zu berücksichtigen, der bei angemessener Sorgfalt zum Bewertungsstichtag hätte erlangt werden können. Dies gilt auch in Bezug auf den Informationsstand über die Ertragsteuerbelastung der finanziellen Überschüsse.
Nach MATSCHKE / BRÖSEL (Unternehmensbewertung, 2. Auflage, Wiesbaden 2006
S. 664-665) , gehört das Stichtagsprinzip zu den Prinzipien der Kapitalisierung, welche als spezielle Prinzipien bei der Ermittlung des Zukunftserfolgswertes als Entscheidungswert gemäß dem Zweckadäquanzprinzip (Aufgabenadäquater Wert) einzuhalten sind:

Nach dem Zukunftserfolgswertverfahren wird der Grenzpreis (oder die Grenzpreisspanne) durch Diskontierung der Zukunftserfolge auf den Bewertungsstichtag abgeschätzt. Deshalb sind auch die Prinzipien der Kapitalisierung zu beachten. Das bedeutet, daß die Bewertung auf den Verhältnissen und Zukunftsaussichten dieses Stichtages (Stichtagsprinzip) beruht. Die Diskontierungszinsfüße sind dabei als Grenzzinsfüße zu schätzen, d.h. aus den "letzten" vorgesehenen Verwendungen oder Beschaffungen von Geld in den (zukünftigen) Betrachtungsperioden. Häufig wird in diesem Zusammenhang vom Haben- und vom Sollzinssatz gesprochen. Dies könnte jedoch zu Mißverständnissen führen, weil diese Begriffe im theoretischen Kontext nicht bankmäßig, sondern als Grenzverwendung oder Grenzbeschaffung von Zahlungsmitteln zu verstehen sind (Prinzip der Grenzzinsfüße). Sofern es zu keinen Umstrukturierungen mit Kapitalwertänderungen beim Übergang vom Basis- zum Bewertungsprogramm kommt, entspricht der kapitalisierte Zukunftserfolg dem Grenzpreis.
BUSSE VON COLBE hatte hervorgehoben, dass eine sehr enge Interpretation des Stichtagsprinzips zu einer Ablehnung der prognoseorientierten Unternehmensbewertung führen kann (Die Resonanz betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse zur Unternehmensbewertung in der zivilrechtlichen und steuerlichen Rechtsprechung. In: StbJb 1981/82, S. 267).

Dagegen argumentiert MOXTER in seinem Buch Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung (2. Auflage, Wiesbaden 1983, S. 171-173):

Das Prinzip der Zukunftsbezogenheit ist eine ebenso selbstverständliche wie wichtige Maxime der Unternehmensbewertung. Die Erträge aus dem Bewertungsobjekt wie aus dem Vergleichsobjekt sind als künftige Erträge, mithin als Ertragserwartungen zu verstehen. Vergangenheitserträge sind nur maßgeblich als Indikatoren der Zukunftserträge; denn Vergangenheitserträge sind nicht das, was der Käufer erwirbt (und zu vergüten bereit ist), und sie sind nicht das, was der Verkäufer aufgibt (und zu vergüten fordern darf). Das Stichtagsprinzip konkretisiert dieses Prinzip der Zukunftsbezogenheit: In der gerade dargestellten, weiten Interpretation besagt das Stichtagsprinzip, daß nur die am Bewertungsstichtag bei angemessener Sorgfalt erlangbaren Informationen über die Zukunftserträge maßgeblich sind. In einer engen Interpretaion begrenzt das Stichtagsprinzip die zu berücksichtigenden Zukunftserträge auf jene, die sich am Bewertungsstichtag bereits in einer als hinreichend anzusehenden Weise konkretisiert haben.

Das Stichtagsprinzip hat in seiner weiten Interpretaion primär den Sinn, einen am Bewertungsstichtag geltenden Unternehmenswert abzugrenzen gegenüber einem erst zu einem späteren Stichtag geltenden Unternehmenswert; man will insbesondere erreichen, daß Auseinandersetzungsguthaben auf der Basis des am Auseinandersetzungstag maßgeblichen Unternehmenswertes ermittelt werden. Das Stichtagsprizip, weit interpretiert, gibt dem Zukunftsbezogenheitsprinzip erst Konturen: es klärt, wann die "Zukunft" beginnt. In der engen Interpretation hat das Stichtagsprinzip ausschließlich eine Vereinfachungs- bzw. Objektivierungsfunktion: Die zu berücksichtigenden Zukunftserträge werden auf die am Bewertungsstichtag bereits "greifbaren" Zukunftserträge begrenzt. Die Bandbreite möglicher subjektiver Ertragserwartungen wird beschnitten, um subjektives Ermessen zu begrenzen bzw. um die Bewertung zu vereinfachen.












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