Montag, 27. Juni 2011

Vermögenspreisblasen und Geldpolitik

Boom - Boost - Zyklen (nachfolgend auch Hausse - Baisse - Zyklen genannt) bei Vermögenspreisen können sich in Bezug auf die gesamtwirtschaftliche Produktion und die Preisstabilität als sehr kostspielig erweisen. Zentralbanken sind daran interessiert, die Risiken für die Preisstabilität, die sich aus derartigen Entwicklungen ergeben, zu verringern. Angesichts dessen wird im vorliegenden Beitrag der Standpunkt vertreten, dass sowohl die Erfahrungen der jüngsten Krise an den Finanzmärkten als auch die Ergebnisse der volkswirtschaftlichen Forschung dafür sprechen, dass Zentralbanken eine Politik des Gegensteuerns bei Vermögenspreisblasen verfolgen sollten. Das Erkennen solcher Blasen ist nicht einfach, doch deutet die aktuelle Forschung darauf hin, dass Geldmengen- und Kreditindikatoren dazu beitragen können, Hausse - Baisse - Zyklen an den Vermögensmärkten vorherzusehen. Deswegen kommt es umso mehr darauf an, dass Zentralbanken derartige Variablen regelmäßig genau beobachten.


Die stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie der EZB enthält Elemente eines Ansatzes zum Gegensteuern. Insbesondere durch die herausragende Rolle, die der monetären Analyse innerhalb der Strategie zukommt, wird gewährleistet, dass Geldmengen-, Kredit- und Liquiditätsbedingungen - die empirisch mit der Entwicklung der Vermögenspreise in Zusammenhang stehen - bei der Durchführung der Geldpolitik angemessen mit einbezogen werden. Die monetäre Analyse stellt einen wichtigen Rahmen dar, innerhalb dessen längerfristige Risiken für die Preisstabilität, die beispielsweise aus Boom - Boost - Zyklen bei Vermögenspreisen hervorgehen können, untersucht werden.


Argumente für das Gegensteuern

Vor dem Ausbruch der Finanzkrise im August 2007 wurde vorrangig die Auffassung vertreten, dass Zentralbanken bei der Durchführung der Geldpolitik Vermögenspreisschüben nicht entgegenwirken sollten. Während es in der Boomphase als gerechtfertigt angesehen wurde, den von positiven Vermögenseffekten auf die Ausgabenentscheidungen ausgehenden kurz- bis mittelfristigen Inflationsdruck einzudämmen, war es allgemeiner Konsens, dass Zentralbanken Vermögenspreisblasen ohne eigenes Zutun platzen lassen sollten, anstatt sie durch aktives Eingreifen in Grenzen zu halten. So wurde es als angemessen erachtet, die Wirtschaft nach Platzen einer Vermögenspreisblase mithilfe eines akkomodierenden geldpolitischen Kurses zu stützen, aber nicht zu versuchen, den ursprünglichen Boom zu bremsen. 

Die Ergebnisse der jüngsten Zeit haben diese Ansicht in Frage gestellt. Inzwischen ist es offenkundig, dass in den Jahren vor dem Einsetzen der Finanzkrise ein verhaltener Preisauftrieb mit einem ungebremsten Anstieg der Vermögenspreise und dem allmählichen Aufbau finanzieller Ungleichgewichte einherging. In diesem Zusammenhang sind Inflationsprognosen mit ihrem Augenmerk auf kürzerfristigen Zeithorizonten möglicherweise kein akkurater Indikator für entstehende Ungleichgewichte, die auf längere Sicht Risiken für die Preisstabilität darstellen. In solchen Phasen könnte eine gegensteuernde Strategie bei Fehlentwicklungen der Vermögenspreise eine wünschenswertere Politikoption sein.

Ein solches Gegensteuern bedeutet nicht, dass Vermögenspreise als Zielgröße verwendet werden. Die gegensteuernde Politik kann vielmehr als eine Strategie bezeichnet werden, mit der die Zentralbank als Reaktion auf eine sich ausweitende Vermögenspreisblase einen etwas strafferen geldpolitischen Kurs einschlägt als dies bei ähnlichen gesamtwirtschaftlichen Perspektiven unter normaleren Marktbedingungen der Fall wäre. Auf diese Weise agiert die Zentralbank in einem frühen Stadium der Marktentwicklung eher mit Vorsicht, um zu vermeiden, dass sie die Vermögenspreisblase durch eine zu expansive Geldpolitik unterstützt. Die Zentralbank würde damit im Einklang mit dem Mandat zur dauerhaften Wahrung der Preisstabilität eine möglicherweise etwas höhere Volatilität der Preisentwicklung auf kurze Sicht in Kauf nehmen, um so längerfristig die Aussichten für die Gewährleistung der preislichen Stabilität zu verbessern.

Die Skepsis gegenüber der Politik des Gegensteuerns beruht traditionell auf drei Gründen. Erstens dürfte in Phasen, in denen an den Märkten eine euphorische Stimmung herrscht, die Wirksamkeit der Geldpolitik in Bezug auf die Begrenzung von Vermögenspreisschüben in Frage zu stellen sein. Die Leitzinsen müssten möglicherweise beträchtlich erhöht werden, um einen messbaren Effekt auf die Vermögenspreis - Hausse zu erzielen. Zweitens wurde der geldpolitische Kurs als ein sehr stumpfes Instrument zur Eindämmung dieser Preisblasen angesehen. Die Anhebung der Leitzinsen wirkt sich unter normalen Umständen dämpfend auf eine Vielzahl von Vermögenspreisen (darunter auch auf solche, die nicht stark ansteigen) sowie auf die Realwirtschaft und die Verbraucherpreise aus. Demzufolge könnte eine derartige Politik zur Bekämpfung von Vermögenspreisblasen erhebliche Kollateralschäden verursachen. Drittens gibt es Zweifel, inwieweit Zentralbanken in der Lage sind, Preisblasen bei Vermögenswerten in Echtzeit zu erkennen. So könnte insbesondere in dem Fall, dass starke Preisanstiege durch Änderungen der wirtschaftlichen Fundamentaldaten entstehen und gerechtfertigt sind (und somit keine Vermögenspreisblase darstellen), eine auf den Preissprung erfolgende geldpolitische Reaktion die Wirtschaft unnötig destabilisieren.

Die während der Finanzkrise gesammelten Erfahrungen und die Ergebnisse der jüngeren empirischen und theoretischen Forschung liefern jedoch in diesem Zusammenhang weitere Einsichten. Unter dem Strich entkräften sie die oben genannten Bedenken weitgehend und stärken damit eine gegensteuernde Politik als einen tragfähigen Ansatz für geldpolitische Entscheidungen.

Was erstens die Skepsis bezüglich der Effiktivität und Effizienz der Geldpolitik bei der Eindämmung von Vermögenspreisblasen anbelangt, weist die aktuelle Forschung auf zusätzliche geldpolitische Transmissionskanäle hin, die allesamt die Auswirkungen geldpolitischer Impulse während finanzieller Boomphasen verstärken dürften. So lässt zum Beispiel der "Risikoübernahmekanal" den Schluss zu, dass das Risikoverhalten von Banken eng mit dem geldpolitischen Kurs korreliert. Wenn der Finanzsektor durch sehr umfangreiche Kreditverflechtungen gekennzeichnet ist, können bereits vergleichsweise geringe Leitzinsanhebungen zu deutlichen Veränderungen der Kreditkonditionen und der Dynamik an den Märkten führen, die so weit gehen können, dass sie die Risikotoleranz der Geldinstitute beeinflussen.

Ähnlich können Mechanismen, die über die Signalwirkung der Geldpolitik oder die mögliche Einflussnahme der Zentralbanken im Hinblick auf die Eindämmung von Herdenverhalten der Anleger wirken, darin resultieren, dass Leitzinsänderungen einen stärkeren Effekt auf Vermögenspreise haben als bisher allgemein angenommen. Zur Veranschaulichung der Transmission über die Signalwirkung wird argumentiert, dass geldpolitische Maßnahmen die Einschätzung der Zentralbank bezüglich der Wirtschaftslage glaubwürdiger vermitteln als eine Rede oder eine Stellungnahme. Dies wiederum ermöglicht effizientere Investitionen und eine verbesserte Entscheidungsfindung der Investoren. Im Hinblick auf das Herdenverhalten - wenn sich Investoren also von den Entscheidungen anderer Marktteilnehmer leiten lassen - gilt: Je deutlicher Märkte einem gegebenen Trend folgen, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Investoren zu einer Blasenbildung beitragen. Es zeigt sich, dass Zinserhöhungen wirksam sein könnten, um Herdenverhalten aufzuhalten und die Anleger zu veranlassen, Entscheidungen auf der Grundlagen ihrer eigenen Informationen über die erwartete Rentabilität von Investitionsprojekten zu treffen.

Zweitens wurde - im Hinblick auf die Folgen einer Politik des Gegensteuerns für die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt - die Analyse der Kosten von Hausse - Baisse - Zyklen bei Vermögenspreisen in Industrieländern vertieft und weiterentwickelt. Theoriebasierte Ansätze zur Berechnung der Kosten von Vermögenspreisblasen liefern uneindeutige Ergebnisse oder sehen diese Blasen sogar als gerechtfertigt an, da sie dem individuellen Optimierungsverhalten im allgemeinen Gleichgewicht entsprächen. Allerdings liegen den bestehenden theoretischen Modellen recht spezifische Annahmen zugrunde, um Vermögenspreisblasen im allgemeinen Gleichgewicht zu berücksichtigen, und sie vernachlässigen in Bezug auf die Wohlfahrtsanalyse tendenziell wichtige Aspekte, durch die Preisblasen in der Realität Kosten verursachen. So werden zum Beispiel die fiskalische Belastung für zukünftige Generationen, der Vertrauensverlust in die Marktwirtschaft und die Anreize zu künftiger Risikoübernahme aufgrund verschiedener staatlicher Eingriffe und Rettungspakete - d.h. die Moral - Hazard - Problematik - in der Regel bei der Berechnung der Wohlfahrtskosten platzender Vermögenspreisblasen nicht berücksichtigt. Freilich sind nicht alle Boom - Bust - Zyklen schädlich oder haben gravierende reale Auswirkungen. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb eine mechanische Steuerung von Vermögenspreisen keine sinnvolle Politikoption darstellt. Die Erfahrungen der jüngsten Finanzkrise, die mit einem Einbruch der globalen wirtschaftlichen Aktivität, steigender Arbeitslosigkeit und beträchtlicher finanzieller Instabilität in einer Reihe von Ländern und Märkten einherging, lehren gleichwohl, dass es Hausse - Baisse - Zyklen gibt, die über das Potenzial verfügen, systemische Krisen auszulösen, und die damit eine ernsthafte Gefahr für das Wirtschaftswachstum weltweit darstellen. 

Was schließlich das Erkennen von Preisblasen in Echtzeit betrifft, so wird in der aktuellen Forschung betont, dass die Unsicherheit bei der Einschätzung, ob es sich bei einem Vermögenspreisboom tatsächlich um eine Blase handelt oder ob lediglich wirtschaftliche Fundamentaldaten widergespiegelt werden, nicht zwingend größer ist als bei anderen von Zentralbanken für gewöhnlich als Indikatoren verwendeten ökonomischen Konzepten, wie beispielsweise der Berechnung des Ausmaßes ungenutzter Kapazitäten in einer Volkswirtschaft (also der Produktionslücke). Neuere Studien der BIZ und der EZB untermauern in der Tat, dass einfache statistische Methoden, mit denen sich rasche und anhaltende Bewegungen von Vermögenspreisen analysieren lassen, potenziell gefährdende Phasen des Überschwangs an den Finanzmärkten identifizieren können. Bis zu einem gewissen Grad ist es möglich, diese Phasen durch die sorgfältige Analyse der Geldmengen- und Kreditentwicklung vorherzusagen. Insbesondere ist die Vorlaufbeziehung zwischen Kreditvergabe an den privaten Sektor und Vermögenspreisbooms, die für die Aktienkursentwicklung im Euroraum im Jahr 2005 belegt wurde, inzwischen durch empirische Untersuchungen zur Immobilienpreis- und Aktienkursentwicklung in mehreren OECD - Staaten bestätigt worden. 

Zusammenfassung

Sowohl die Erfahrungen der jüngsten Finanzkrise als auch die Ergebnisse der aktuellen ökonomischen Forschung haben die Diskussion über die Politik des Gegensteuerns tendenziell dahingehend verändert, dass gegensteuernde Maßnahmen weniger skeptisch gesehen werden. Gleichzeitig wird anerkannt, dass die neuen Belege keine eindeutigen Schlüsse zulassen und dass eine Vielzahl praktischer Fragen zu beantworten ist, wenn ein solcher Ansatz tatsächlich umgesetzt werden soll.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, müssen Warnsignale für bevorstehende Vermögenspreisblasen, Haussen oder Baissen von Vermögenswerten entwickelt werden. Im Rahmen der aktuellen Forschung werden Indikatoren erarbeitet, die früh genug und in Echtzeit vor Fehlentwicklungen an den Vermögensmärkten warnen, sodass zeitnah Korrekturmaßnahmen ergriffen und auf diese Weise möglicherweise die aufkommenden finanziellen Ungleichgewichte und die damit verbundenen Risiken für die gesamtwirtschaftliche Stabilität sowie die Preisstabilität eingedämmt werden können. Die Ergebnisse dieser Forschungsagenda sind ermutigend. So scheinen vor allem verschiedene Geldmengen- und Kreditindikatoren Vorlaufeigenschaften bezüglich der Vermögenspreisentwicklung zu besitzen.

Um zu beurteilen, inwieweit hohe Vermögenspreise auf eine zu großzügige Liquiditätsschöpfung und eine Lockerung der Kreditvergabe zurückzuführen sind und zugleich ursächlich hierfür sein könnten, ist es hilfreich, im Vorfeld geldpolitischer Beschlüsse eine sorgfältige monetäre Analyse durchzuführen. Es ist einfacher, sich eine Meinung darüber zu bilden, ob eine beobachtete Bewegung bei den Vermögenspreisen bereits erstes Anzeichen einer entstehenden nicht tragbaren Blase ist, wenn man diesen Zusammenhang erkennt und ihn versteht.

Die Geldpolitik sollte keine Zielgröße für Vermögenspreise oder Indizes festlegen. Dennoch unterstützt eine geldpolitische Strategie, die Elemente einer entsprechenden Politik enthält, die Gewährleistung der Preisstabilität, indem sie Risiken begrenzt, die auf längere Sicht - d.h.  über den Horizont der traditionellen Inflationsprognosen hinaus - auftreten könnten. So umfasst die Zwei - Säulen - Strategie der EZB implizit ein Element des Gegensteuerns, das sich aus der herausragenden Rolle der monetären Analyse innerhalb eines breiteren stabilitätsorientierten Rahmens für geldpolitische Entscheidungen ergibt. 

Die mittelfristige Ausrichtung der Geldpolitik der EZB stellt somit sicher, dass die Auswirkungen finanzieller Ungleichgewichte und Fehlentwicklungen von Vermögenspreisen sowie deren Rückbildung im Kontext geldpolitischer Beschlüsse angemessen berücksichtigt werden, da diese Phänomene die Aussichten für die Preisentwicklung auf längere Sicht beeinflussen. Da im Mandat der EZB festgelegt ist, dass Preisstabilität mittelfristig - und nicht während eines bestimmten willkürlich definierten Zeithorizonts - gewährleistet werden soll, ist es wichtig, dass die EZB den allmählichen Aufbau von auf Dauer nicht tragbaren finanziellen Ungleichgewichten beobachtet, die längerfristig eine Gefahr für die gesamtwirtschaftliche Stabilität sowie die Preisstabilität darstellen. Dieser Ansatz wird durch die wesentlichen Elemente der geldpolitischen Strategie der EZB - die mittelfristige Ausrichtung, die genaue Beobachtung der Geldmengen- und Kreditentwicklung und den umfassenden, stabilitätsorientierten Blickwinkel der Geldpolitik - gestützt.
(Quelle: Europäische Zentralbank, Monatsbericht November 2010, S. 75-89)














 

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